Unsere Geschwister gehören zu uns wie Blätter an Äste. Niemand fragt uns, ob wir sie wollen oder nicht, sie sind immer da.

Doch wie fühlt es sich an, mit einem Geschwister aufzuwachsen, das eine Behinderung oder eine chronische Krankheit hat? Wie prägt es beispielsweise den Charakter oder das Verhalten, mit einer Schwester aufzuwachsen, die sich seit dem vierten Geburtstag geistig nicht mehr weiterentwickelt hat und intensiv gepflegt wird? Oder wie lebt es sich mit einer Schwester, deren Lebenserwartung nur bei 40 bis 50 Jahren liegt?

Die dokumentarische Webserie «Schattenkinder» erzählt in fünf Episoden die Geschichten von fünf Geschwisterpaaren. Es sind Geschichten über verflochtene Bindungen, Veränderung, Reifungsprozesse, Eifersucht und Mitleid.

Just my sister

Schon als Kind bemerkte Miriam, dass es ihrer Schwester Daniela schwer fiel, ihren Kopf selbstständig zu heben, das Laufen zu erlernen und Daniela hatte immer ein spezielles Fahrrad mit drei Rädern und Stützhilfen. Es war ein langer und nicht immer einfacher Prozess für Miriam zu akzeptieren und zu verarbeiten, dass die Meschen auf der Strasse Daniela mit anderen Augen sehen und ihr manchmal mit Unverständnis begegnen. In diesem Prozess hilft es Miriam unter anderem ihre Beziehung und die Erlebnisse mit Daniela in ihren kreativen Prozess als Musikerin einfliessen zu lassen.

Der zweite Bruder

Die WG von Lukas, seinem Bruder Flo, Lukas Frau Julia und ihrem Sohn ist kunterbunt und lebhaft. Sie besteht seit ungefähr drei Jahren. Damals entschieden die beiden Brüder nach einem abrupten Wandel in Flos Leben zusammen zu ziehen. Durch das gemeinsame Leben unter einem Dach, hat sich die geschwisterliche Beziehung zwischen den beiden Brüdern bis auf den Kern neu definiert.

Lebenslang

Claudia kennt kein Leben ohne ihre Schwester Daniela, die zwei Jahre jünger ist als sie. In ihren gemeinsamen 54 Jahren hat sich die Beziehung verändert. Die zwei Schwestern waren sich als Kinder und Jugendliche sehr nahe, unternahmen viel. Doch das änderte sich, als Claudia ihre eigene Familie gründete. Wenn sie sich heute sehen, dann gelingt es Claudia, wie keinem anderen Menschen, Daniela durchgehend ein Lächeln aufs Gesicht zu zeichnen.

Grenzen(los)

Peter überschreitet aufgrund seiner Krankheit in manchen sozialen Situationen die Grenzen anderer Menschen. Auch diejenige seiner Schwester Nadja. Zurzeit haben die Beiden nicht viel Kontakt, weil es für Nadja eine Belastung ist, ihren Bruder zu sehen. Doch das soll sich ändern.

Auf dem Gipfel

Auf den ersten Blick scheint es nichts Belastendes im Leben der beiden Schwestern Jessica und Giulia zu geben. Doch auf den zweiten Blick zeigen das Husten und die raue Stimme von Giulia, dass ihr Leben anders aussieht, als das von anderen Menschen anfangs Zwanzig. In der Kindheit waren sich die beiden Schwestern nicht immer so nahe und kämpften mit den eigenen Sorgen, was aber heute ganz anders ist.

About

Nina Rothenberger | Realisation

Wie Nadja, meine Protagonistin der Episode «Grenzen(los)», war ich immer ein wenig eifersüchtig auf die anderen Kinder mit einer grossen Schwester oder mit einem Bruder, mit denen sie immer spielen konnten. Und auch heute frage ich mich, ob ich mich anders verhalten oder anders denken würde, wenn ich kein Einzelkind wäre. Dieses Ringen um Antworten, motivierte mich dazu geschwisterliche Beziehungen in belastenden Situationen durch mein Projekt kennen zu lernen und zu zeigen. Dieses Ziel trieb mich während des fünf monatigen Arbeitsprozesses dazu an, immer weiter zu suchen und Schicht für Schicht die verschiedenen Beziehungen zu durchdringen, um zum Schluss die Essenz der fünf Geschwistergeschichten in Bild und Ton zu erfassen.

Nina Rothenberger (*geboren 1991 in Zürich) produziert, schreibt, koordiniert und plant web-basierten Content, auch für Social Media. Nach Abschluss des Bachelorstudiums in Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Universität Zürich im Jahr 2015, studierte sie zwischen 2016–19 an der ZHdK Cast/Audiovisual Media.
www.ninarothenberger.ch

Das Projekt Schattenkinder entstand im Rahmen einer Diplomarbeit an der Zürcher Hochschule der Künste in der Fachrichtung Cast/Audiovisual Media.


Bastian Riesen | Illustrationen

Die Vermittlungsarbeit in Schulen und Institutionen mit Menschen und deren unterschiedlichen Bedürfnissen und Anforderungen eröffnete mir einen direkten und intuitiven Zugang zur Zeichnung. Die Zeichnung kann Reflexions- und Kommunikationsmittel sein. Sie beginnt den Dialog in der Zusammenarbeit von Menschen mit diversen Zugängen zu Kunst und ermöglicht es, nicht alles in Worte fassen zu müssen. Ich bin glücklich über die verschiedenen Momente der Zusammenarbeit, die ich in den letzten Jahren erleben durfte. Danke für das Vertrauen von Nina und allen Beteiligten, mich Teile ihrer Geschichte illustrieren zu lassen.

Bastian Riesen aus Winterthur ist 24 Jahre alt und studiert Art Education an der ZHdK. bastian.riesen@bluewin.ch


Adina Friis | Musik


Dominik Beck | Mix & Master Musik

merci | Den Protagonist*innen für ihre Offenheit, ihren Mut und das Vertrauen. Katrin und Meret für ihre Energie, wenn ich sie nicht hatte. Meiner Mama für die gemeinsame Besteigung des Mount Everests.

Deine Geschichte!

Die Geschwistergeschichten der fünf Schattenkinder sind einzigartig, tiefschürfend und nicht immer einfach. Mich während den letzten Monaten mit ihnen zu beschäftigen, sie in Bild und Ton umzusetzen, hat mich persönlich stärker und aufmerksamer gemacht. Sehe ich jetzt beispielsweise in der Tram Personen, die nicht unserer strengen gesellschaftlichen Norm entsprechen, läuft in mir ein anderer Film ab, als vor diesem Projekt und ich reagiere schon ein wenig offener und bewusster.
Einblicke in andere Lebensweisen zu erhalten und von Erfahrungen zu hören, zieht nicht spurlos an uns vorbei. Darum möchte ich dich einladen deine Geschwistergeschichte mit mir zu teilen! Wie hat dich dein Geschwister geprägt? Was hast du gelernt? Und woran bist du verzweifelt?
*Auch Beiträge von Einzelkindern, wie ich es eins bin, sind herzlich willkommen!

 
 
 
 
 
 
 
7 Einträge
Tat Tat aus Zürich schrieb am Juni 15, 2019 um 11:12 am
Mein zwei Jahre jüngerer Bruder und ich hatten nie so die richtig enge Beziehung. An was es genau liegen mag, ob an den mangelnden gemeinsamen Interessen, dem Alters- oder Geschlechterunterschied oder einfach daran, dass wir uns trotz gemeinsamer Wohnung kaum sehen - ich weiss es nicht. Wir waren einfach nie die #siblinggoals und verbrachten auch nie wirklichn Zeit zu zweit. Manchmal fehlt mir diese geschwisterliche Nähe von der all meine Freunde erzählen. Manchmal frage ich mich, ob ich nicht mehr von mir aus auf ihn zugehen und Gemeinsamkeiten erkunden sollte. Gerade als grosse Schwester könnte ich mich doch auch irgendwie veratwortlich fühlen. Und manchmal ist es auch einfach okay für mich, dass wir so verschieden sind und eben unsere eigenen Wege gehen, eigene Erfahrungen sammeln wollen und uns nicht brauchen. Lieb habe ich ihn trotzdem sehr. Mein kleiner Bruder wird nun in ein paar Monaten heiraten, mit 20 Jahren eine sehr mutige und vielleicht auch etwas leichtsinnige Entscheidung, die ich zu respektieren und akzeptieren gelernt habe. Da sieht man mal wieder, wie grundverschieden wir sind. Er liebt seine Freundin, sie ist gut zu ihm und heutzutage bedeutet verheiratet zu sein ja nicht mehr das, was es noch vor 50 Jahren bedeutete. Ich frage mich trotzdem, ob ich mich nicht schon früher hätte mit SEINEN Gedanken und SEINEN Gefühlen auseinandersetzen müssen, ob ich ihn nicht vielleicht ein bisschen für seine Entscheidung kritisieren soll und ob er nicht einen Fehler begeht. Aber wer weiss das schon. Ich freue mich für ihn und vielleicht ist dieser neue Abschnitt in seinem Leben ja auch eine Chance für unsere Beziehung. Vielleicht lernt er etwas über Verantwortung und wichtige Bindungen und merkt dann so wie ich, dass ich ihm fehle - und vielleicht ist er dann nicht so feige wie ich und geht einen Schritt auf mich zu. Und ganz vielleicht gibt mir diese Bindung dann auch die Sicherheit, mich meinen Ängsten zu stellen und ihm gegenüber offener zu sein. Danke Nina, für den Gedankenanstoss mit deinen Videos. Geschwister zu haben ist nicht immer einfach, aber es ist ein tolles Gefühl zu wissen, dass im Ernstfall immer jemand da ist. Ich schätze das.
elo elo aus zürich / st. gallen schrieb am Juni 3, 2019 um 2:32 am
meine schwester hat sich immer einen kleinen bruder gewünscht. die nachricht darüber, dass unsere mutter eine weitere tochter zur welt gebracht hatte, stimmte die fünfeinhalb jährige, die schon immer genau wusste was sie wollte, nicht gerade fröhlich. unverblümt gesprochen: sie war richtig, richtig sauer. sie packte einen kleinen koffer und marschierte aus dem haus, fest davon überzeugt, dass sie nicht wieder zurückkommen würde. wenige minuten später klingelte sie an der haustür ihres göttis, der sie voller verständnis bei sich zuhause aufnahm. mein vater stand kurze zeit später an derselben haustür und sass daraufhin für eine weile mit meinem onkel am küchentisch, trank kaffee und erwähnte mit keinem wort den melodramatischen und zugleich sackstarken abgang seiner erstgeborenen. meine schwester, die sich in einem zimmer nebenan versteckte und lauschte, konnte es nicht fassen, dass unser paps seelenruhig am käfälä war, wo doch seine tochter gerade "ausgezogen" war und dabei nicht einmal ihre neue anschrift hinterliess. darüberhinaus war sie erstaunt - so wage ich zu behaupten - wie er überhaupt herausgefunden hatte wo sie hingegangen war. als sich mein vater dann wieder auf den weg machen wollte, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und stürmte in die küche hinein. er bot ihr an, mit ihm nach hause zu kommen und ich nehme an, dass mein onkel/ihr götti ihr obendrauf noch gut zusprach, sodass sie sich ihr köfferchen schnappte und wieder zurück nach hause ging. sie würde jedoch auf keinen fall und unter gar keinen umständen ihrer mutter und ihrem schwesterchen einen besuch im spital abstatten. sie hatte kein schwesterchen bestellt. punkt. keine weiteren diskussionen. doch unsere nonna verstand es, sie liebevoll um den finger zu wickeln und versprach ihr, dass sie für den besuch ein schönes kleidchen anziehen könne, lippenstift auftragen dürfe und sogar die nägeli angemalt bekommen würde. das schien für sie ein dermassen guter deal zu sein, dass sie dann doch mit ins spital ging, um einen blick auf das neugeborene nicht-brüderlein zu werfen. "und dann war es liebe auf den ersten blick", pflegt meine schwester zu sagen, wenn sie diese geschichte erzählt. denn obwohl ich gewissermassen sowohl protagonistin als auch das unüberwindbare hindernis dieser story bin, konnte ich zu diesem zeit nicht einmal erahnen, wie viel drama dieses erdenleben mit sich bringen würde und wieviel davon ich bereits mitverursachte! zu fest beschäftigt war ich damit, mich daran zu gewöhnen selbst atmen und essen zu müssen, sowie kälte und licht ausgesetzt zu sein. zudem musste ich die geburt selbst noch ein wenig verdauen. der weg von hotel mama nach draussen in die graue, kalte, fiese welt war wohl etwas ein murx für mich, denn scheinbar kam ich mit einem ziemlich blauen kopf aus meiner mutter raus, was meinem vater den kommentar "oh, es ist ein schlumpf!" entlockte. nach dem besuch im spital wurden meine schwester und ich beste freundinnen und teilten uns für 13 jahre ein zimmer. und es war grossartig! wir lernten rücksicht aufeinander zu nehmen, liebten es sowieso alles zu teilen und mussten früh beginnen, konflikte zu lösen - also reden, reden und nochmals reden. mit meiner beinahe sehcs jahre älteren schwester aufzuwachsen war das beste, was mir passieren konnte. ich durfte immer mit der grossen und ihren freund*innen zusammen sein, mitspielen, diskutieren, zuhören. ich war nie alleine und stets herausgefordert, so viele neue welten erschlossen sich mir, so vieles gab es dank dieser beziehung zu lernen. mit dem erscheinen des ersten harry potter bandes entstand eine tradition: das vorlesen. von band eins bis band vier las mir meine schwester or, ab band fünf wechselten wir uns dabei ab. als ich etwa zehn war war lud mich meine schwester zum ersten mal zu einem "sorella-usfluug" nach zürich ein. ich mag mich noch genau erinnern - mein erster zürich-besuch führte mich in den chinagarten und ich fand es total aufregend. seither machen wir jährlich gemeinsam ausflüge, seit anfang meiner zwanziger jahre dehnen wir das ganze meist auf eine woche ferien aus. und wenn keine ferien sind, dann müssen wir uns trotzdem ganz oft sehen oder mindestens miteinander telefonieren. denn wir können wortwörtlich über alles miteinander sprechen. ich wünsche allen menschen, dass sie so eine starke freundschaft erleben dürfen, wie ich sie mit meinen engsten freund*innen geniessen darf. und ich bin unbeschreiblich dankbar darüber, mit meiner schweister seit tag eins meines lebens eine beste freundin haben zu dürfen.
Mary Mary aus Zürich schrieb am Mai 28, 2019 um 8:40 am
Früher hatte ich viel Streit mit meiner Schwester. Doch inzwischen sind wir uns sehr nahe und verbringen viel Zeit miteinander. Trotzdem gibt es wiederkehrende Konflikte wie zum Beispiel die Muster und Rollen der Jüngeren (werden oft überhört und verglichen) und der Älteren (übernehmen oft früh Verantwortung und müssen für alles kämpfen) die immer wieder aufkommen. Meine Schwester ist eine der Personen die mir am ehrlichsten die Meinung sagen kann und auch wenn es manchmal schmerzt, ist es besonders wertvoll ein ehrliches Feedback zu kriegen. Doch dafür ist der offene und erhliche Umgang besonders wichtig, und das beinhaltet auch schwierige Gespräche... Es isch äs gäh und es näh 🙂
Katrin Katrin aus Zürich schrieb am Mai 26, 2019 um 4:52 pm
Liebe Nina, Ich habe dein Schattenkinder-Projekt an meine kleine Schwester weitergeleitet und dadurch entstand ein sehr schönes Gespräch. Wir haben darüber gesprochen wie sich unsere Beziehung mit dem Erwachsenwerden verändert hat, wie sich dabei der Altersunterschied verschoben hat und welche Rollen wir früher und heute in unseren Leben spielen. Unsere Geschwisterbeziehung hat sich über die Jahre in eine tiefe Freundschaft zwischen zwei jungen Frauen entwickelt. Mit meiner Schwester befreundet zu sein heisst, eine Freundin zu haben, die mich bis ins Innerste kennt und mein ganzes Leben mitgelebt hat. Und das macht ihr keiner so schnell nach.
Matthias Matthias aus Mailand schrieb am Mai 24, 2019 um 5:18 pm
Als ich acht Jahre alt war, wurde mein Bruder geboren. Ich freute mich sehr darüber, weil ich anstelle meiner älteren Schwester oft lieber einen älteren Bruder gehabt hätte. Doch von da an war plötzlich ich der ältere Bruder. Wir spielten sehr oft zusammen, trotz des grossen Altersunterschieds. Und ich fühlte mich verantwortlich für ihn, weil ich erkannte, dass ich in vielerlei Hinsicht ein Vorbild für ihn war und vielleicht auch immer noch bin. Er ist jetzt bald 20 Jahre alt und wird im Sommer das Elternhaus verlassen. Ich habe oft Zweifel, ob mein Einfluss immer gut für ihn war. Nicht, dass sein Leben nicht gut verlaufen wäre, es ist alles in Ordnung. Einige meiner Einflüsse waren sicherlich gut und hilfreich. Aber ich war manchmal auch gemein zu ihm und nutzte den Altersvorsprung zu meinem Vorteil aus. Wir hatten oft schwierige Zeiten durchzustehen, manchmal redeten wir länger nicht miteinander. Heute haben wir manchmal Schwierigkeiten in Kontakt zu bleiben, aber wenn wir uns sehen oder telefonieren ist es immer gut. Eine meiner grössten Ängste war und ist, dass ihm etwas zustossen könnte, dass er sich das Leben nimmt oder in einem Verkehrsunfall stirbt. Ich weiss nicht, wie ich diesen Verlust verarbeiten würde. Damit muss ich leben. Auch wenn diese Gedanken und Gefühle schrecklich sind, erinnern sie mich immer wieder daran, wie gut es ist, einen jüngeren Bruder zu haben.
Nicole Nicole schrieb am Mai 23, 2019 um 8:47 pm
Ich habe einen grösseren Bruder. Ich hatte mir immer gewünscht, dass er "der grosse Bruder" ist, den man halt so aus Filmen kennt. Leider war er das nie. Als Kinder hatten wir eine gute Beziehung zueinander, aber danach wurde es irgendwie immer distanzierter. Ich habe oft ein schlechtes Gewissen, dass ich nichts mit ihm anfangen kann. Er würde sich Mühe geben und möchte Zeit mit mir verbringen, aber mich nervt er meistens nur. Ich hoffe, dass ich das irgendwann zu überwinden schaffe, und wir eine "Bilderbuch Geschwisterbeziehung" haben, wie man sie halt sonst so kennt. Vielleicht ist es aber auch falsch, einer Vorstellung hinterherzulaufen, die halt vielleicht einfach nicht zu uns passt? ... Ich hätte es so gern gut mit ihm. Aber ich stehe mir da selbst im Weg.
Beatrice Beatrice aus Hausen am Albis schrieb am Mai 23, 2019 um 10:31 am
Liebe Nina Deine spannende Arbeit hat in mir einiges aufgebrochen, was meine Beziehung zu meinem Bruder betrifft und ich konnte durch spontane Tränen diesen "unbewussten Stein auf meiner Seele" ins Rollen bringen- Herzlichen Dank dafür:) Zu meiner Geschichte: Als erstgeborenes Kind und erste Enkelin war ich seit Geburt "Königin". Das änderte sich gut ein Jahr später, als mein Bruder geboren wurde und mit Asthma und Hautkrankheiten viel Aufmerksamkeit benötigte. Seine Bedürfnisse waren immer im Vordergrund: Wir flüchteten aus der Zirkusvorstellung, weil er einen Asthmaanfall hatte, ich durfte nicht reiten, weil er höchst allergisch auf diese Tiere reagierte, wir konnten einen geplanten Ausflug nicht machen, weil er ein Kaninchen gestreichelt und nun mit Asthma und blühendem Ekzem im Bett lag. Es war eine Sensation, dass er zwei Fünfen im Zeugnis hatte. Dass ich keine Note unter Fünf heimbrachte, war "normal" (so empfand ich das zumindest manchmal als Kind - heut weiss ich, dass auch ich von meinen Eltern stets liebevoll begleitet und beachtet wurde und noch immer werde). Nebst den körperlichen Einschränkungen hat es mein Bruder verstanden, durch "Lausbubengeschichten" die Aufmerksamkeit meiner Eltern (vor allem meiner Mutter) stets auf sich zu ziehen. Ich war oft eifersüchtig auf ihn, fühlte mich ungeliebt und unverstanden. Gleichzeitig liebte ich meinen Bruder sehr, verteidigte oder umsorgte ihn, wenn es ihm schlecht ging und in Krisensituationen hielten wir zusammen wie Pech und Schwefel. Unbewusst begann ich mich nicht so wichtig zu nehmen, mich über Leistung und braves Verhalten zu definieren. Ich bin gesegnet (oder belastet?) mit scharfem Verstand, vielen Talenten und einem gewinnenden Wesen - was mir ausserhalb der Familie stets viel Erfolg beschert hat, mich bezüglich Aufmerksamkeit in der Familie aber eher ins Abseits katapultierte – meine Eltern waren froh, dass ich einfach "funktionierte". Manchmal ist es gut, sich nicht so wichtig zu nehmen - so kommen Projekte weiter. In anderen Situationen wäre es wichtig, dass meine Bedürfnisse an erster Stelle kommen - dies zu leben wird wohl stets mein Thema bleiben (durch «Schattenkinder» ist mir dies mehr denn je bewusst geworden – danke). Mein Bruder verstand es stets, seine Schwächen auszuspielen, um Ziele zu erreichen. Andererseits wollte er keine Sonderbehandlungen wegen seiner Krankheit. Durch mein Aufwachsen mit ihm habe ich Nachteile und Vorteile einer Krankheit mit Einschränkungen hautnah miterlebt. Menschen mit speziellen Bedürfnissen oder Gebrechen kann ich ohne Mitleid aber offen und unverkrampft - eben auf Augenhöhe - begegnen, wofür ich meinem Bruder sehr dankbar bin. Auch heute haben wir beiden ein herzliches Verhältnis. Uebrigens: Meine Tochter reitet seit Jahren obwohl mein Sohn Asthma hat und höchst allergisch auf Pferde reagiert - jeder akzeptiert die Bedürfnisse des anderen und macht Zugeständnisse. Dies wurde möglich, dank meinen Erfahrungen mit meinem Bruder und einem Aufwachsen in einer liebevollen und fürsorglichen Familie – dem stärksten Fundament, das ein Mensch als Rüstzeug für’s Leben erhalten kann.

©2019 Nina Rothenberger, ZHdK Cast / Audiovisual Media